Dr. phil. Rüdiger Koch
Kultur und Religion: Entfremdete Geschwister?
Aktualisiert: 24. Nov. 2020
R. K.: Religion als Teil der Kultur weist gleichzeitig über sie hinaus. Gibt es zwischen beiden einen (Be-)Deutungskonflikt?
S. H.: „Binde deinen Karren an einen Stern.“ Ein Satz von Leonardo da Vinci, dem Maler, Bildhauer, Architekten, Naturforscher – ein Universalkünstler und –gelehrter. Dieser Gedanke ist Religiosität im eigentlichen Sinne: Sein Vertrauen an das Himmelslicht hängen. Großartig. Da ist Wegweisung drin. Kraft, dass der Wagen Kurs hält und nicht steckenbleibt. Und die Erfahrung, dass es mehr gibt als die Oberfläche der Dinge. Das Leben lässt sich nicht auf das rein Sichtbare und Zählbare reduzieren. In diesem Wissen – so meine ich –treffen sich Kunst, Kultur und Glauben.
Kultus – also die religiösen Zeremonie – und Kultur sind, wie es der Wortstamm verrät, verwandt. Viele Historiker wissen, dass die religiöse Gottesverehrung die Urform von Kultur war und Impulse zur Ausprägung der Künste gab. Sei es im Gebrauch des Wortes als Literatur, in Musik, Gesang und Tanz, sei es in der darstellenden und performativen Kunst.
Gemeinsame Wurzeln also von Kunst, Kultur und Kultus sind zu konstatieren. Und heute auch eine große Schnittmenge. Es geht letztlich gemeinsam darum, anzuschauen und ins Gespräch zu bringen, was zwischen Himmel und Erde geschieht.
Ist ja nun nicht mehr so weit bis Weihnachten: In den Heiligen 3 Königen kommt das alles zusammen: Sie binden ihre Hoffnung und Sehnsucht an einen Stern. Den Stern von Bethlehem – Zeichen für Jesus Christus. Und gehen los.
R. K.: Religionsgebundene Kunst hatte über Jahrhunderte epochale Einflüsse auf Kultur, gab durch ihre Bau- und Bildende Kunst wie die Musik den jeweiligen Gesellschaften prägenden Ausdruck. In unserer säkularisierten Welt sind sichtbar andere als religiöse Einflüsse epochenprägend. Gleichwohl ist Religion ohne eine kulturelle Einbettung nicht denkbar. Führt dieses aus Sicht der Kirche zu neuen interdisziplinären Allianzen zwischen Kultur und Religion?
S. H.: Kunstgeschichte ohne Religionsgeschichte ist nicht denkbar. Nicht nur in der Spätantike, nicht nur im Mittelalter. Magdeburgs Bedeutung resultiert aus der christlichen Wurzel, die Kaiser Otto legte und der Magdeburger Dom bis heute verkörpert.
Das Stichwort „interdisziplinäre Allianzen“ möchte ich begrifflich gern weiten und zugleich lokal konkretisieren für Magdeburg. Das wirkt vielleicht ein bisschen wie eine Aufzählung, zeigt aber eine Bandbreite, von der wir hier sprechen.
Ich denke an die Kultur der Mitmenschlichkeit. Die christliche Nächstenliebe zeigt in der Diakonie als tätige Hilfe für andere Menschen ihr Gesicht. Ausdruck dafür sind die Gründungen der Pfeifferschen Stiftungen und der Magdeburger Stadtmission vor mehr als 100 Jahren. Eine große und eine kleine diakonische Komplexeinrichtung bis heute in der Landeshauptstadt aktiv zur Ehre Gottes und den Menschen zu Gute.
Weiterhin nenne ich das hohe Kulturgut Bildung. Reformationsgeschichte und Bildung sind nicht voneinander zu trennen. Lateinschule, Elementarschule, Domschule – historisch gab es manche Entwicklung. Eine der langfristigen Folgen dieser Bildungsallianz: Magdeburger können im Jahr 2020 ihre Kinder auf eine Reihe konfessioneller Schulen schicken: mehrere Grundschulen, eine Sekundarschule und drei Gymnasien in verschiedener christlicher Trägerschaft stehen ihnen offen.
Buchdruck und Glauben – waren einst sehr eng verbunden. Magdeburg wurde „Unseres Herrgotts Kanzlei“ genannt als Druckzentrum des lutherischen Schrifttums im 16. und 17.Jahrhundert bis auch diese Kulturleistung „magdeburgisiert“ wurde. Selbstkritisch eingeschätzt sind die Kirchen im digitalen Zeitalter anders als zu Zeiten von Luther und seinen Nachfolgern medial nicht so stark aufgestellt. „Corona“ hat hier interessanterweise einen starken Schub gebracht, den sozialen Netzwerken und digitalen Angeboten kirchlicherseits mehr Aufmerksamkeit zu widmen und mehr zuzutrauen,
Ich denke an Kirchbauvereine und ihre Liebe zum Kirchengebäude, zu architektonischer Schönheit, zu respektablen Bauwerken und zu manchem Kleinod der Handwerkskunst. Glocken- und Orgelbauvereine ergänzen das Portfolio. Typisch für diese Vereine sind ihre Bemühungen gerade über kulturelles Leben die Kirchen außerhalb der Gottesdienstzeiten zu nutzen und zu beleben.
Wenn ich diese Themen anreiße, möchte ich auf einige bestehende Berührungspunkte verweisen zwischen gesamtgesellschaftlicher Kultur und kirchlich-religiöser Anschauung und Praxis. Aber ich wünsche mir da deutlich mehr.
Eine erfolgreiche Reihe hat das Pfarr-Ehepaar Herbst über Jahre in Magdeburg etabliert, den Kulturgottesdienst „andernorts“ – zu dem Kunst, Gesellschaft und Glaube punktuell unter einem Thema ins Gespräch gebracht werden.
Strategische Partnerschaften sind aber eher rar. Ein sehr gelungenes Beispiel aber ist mir noch in guter Erinnerung: Wir konnten zum Reformationsjubiläum 2017 mit dem Magdeburger „Kirchentag auf dem Weg“ eine breite interdisziplinäre Allianz von Kultur und Kirche schaffen. Ich stelle mir sehr gut vor, an und mit diesem erfolgreich geknüpften Netzwerk stärker weiterzuarbeiten. Nicht nur funktional, wie etwa „weltliche“ Chöre derzeit gerne die coronakompatiblen, weil großen Kirchenräume gern für ihre Chorproben nutzen, sondern auch inhaltlich. Wenn Kultur und Kirche erkennen, dass sie nicht dem vermeintlichen (Er-)Lösungswort „Systemrelevanz“ hinterherhecheln müssen, sondern wenn sie ihre Relevanz für das Leben entdecken: Tiefe und Sinn, Ästhetik und Provokation, Altruismus und den Geschmack für die Ewigkeit…
Wo könnten wir da weiterdenken – ich würde mir wünschen, wenn die „Denkakte“ zu einem Anstoß wird, auch erneut in Stadtgespräche zu kommen über Kultur, Verkehr, Umwelt und vor allem über Demokratie.
R. K.: Nach Paul Tillich ist Religion nicht ohne Kultur, aber auch Kultur nicht ohne Religion zu verstehen. Welche Initiativen oder Projekte könnten hierbei als eine Übersetzungshilfe dienen?
S. H.: Immer da, wo es um Menschenfragen und Menschheitsfragen geht, also entweder individuell oder global, da werden Kultur und Religion zueinander finden können. Sie haben gewissermaßen dasselbe eine große Thema: von der Schönheit und den Abgründen des Daseins.
Stichwort Tillich. Da komme ich nicht umhin, drauf zu reagieren. Der Theologe Paul Tillich stellte die Frage nach der Zeit, der Umgebung, nach der Situation, in der der Mensch lebt – und verband dieses existentielle Fragen mit theologischen Antworten. Das war Anfang des 20.Jahrhunderts. Sein Ansatz verstand sich als Dialog zwischen Glauben und Umwelt, zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen Sicherheit und Zweifel. Heute ist dieser Ansatz auch – so vermute ich – unter Theologiestudierenden eher wenig bekannt. Warum? Dieses Prinzip stellt auch die eigene Position in Frage. Der Protestantismus seiner Zeit, der sich selbst kultivierte, wird dabei kritisiert. Kirchliche Sprache, die sich von den Menschen entfernt hat, wird als wenig wirkmächtig charakterisiert. Sein Ansatz der Beziehung, der Korrelation, durchdringt alles, das Verhältnis zu Gott ebenso wie zu den großen Lebensfragen. Seine Korrelationsmethode stellte die Verbindung von Existenz und Glauben in den Mittelpunkt. Ich schweife nicht ab. Das hat was mit unserem Thema zu tun, auch weil Tillich die Künstler seiner Zeit als verwandte Sinnsucher gesehen hat. Und diese Menschen gibt es heute auch, die auf der Suche nach der Dimension der Tiefe sind.
Zurück in die Gegenwart: Vielleicht halten wir auch einfach mal Ausschau nach guten Projekten und Ideen aus anderen Orten – good practice-Beispiele. Anfang September 2020 konnte ich beispielsweise im Greifswalder Dom in einem Gottesdienst erleben, wie „Theo“ auf „Thea“ traf, Theo-logie auf Thea-ter – ein spannender Versuch. Auch in Stendal gab es solch eine Kooperation in diesem Jahr. In Magdeburg gibt es Filmgottesdienste und viele Veranstaltungen mit Musik. Natürlich mit großartiger Kirchenmusik aber durchaus auch mit „Grenzgängern“, die den geistlichen Horizont weiten.
Aber mich bewegen auch Fragen – da wäre ich auch auf Antworten anderer gespannt – wie kann man Mozarts Requiem hören, ohne dass der Glaube angesprochen wird. Wie das Weihnachtsoratorium ohne die Freude über den neugeborenen Heiland der Welt?
Motive des Glaubens sind anregend, inspirierend, faszinierend: Welche Vielzahl von Bildern und Geschichten tragen biblische Motive in sich! Paradies und Apokalypse, Schöpfung und 10 Gebote, Brudermord, Judaskuss, David gegen Goliath, 40 Jahre Wüste, 12 Jünger, Passion und Tod, Geburt und Auferstehung, Dunkelheit und Licht. Es gibt so viele Passagen und Elemente die nach gegenseitiger Übersetzung geradezu verlangen!
R. K.: Kultur und Religion sind und bleiben einander verbunden. Sind Kultur und Religion im Heute tatsächlich entfremdete Geschwister? Wie verhalten sie sich zueinander, zwischen Moral und gesellschaftlicher Identität, zwischen Glaube, Wahrheit und Würde? In welche Zukunft gehen beide, begründet durch unser heutiges Denken und Tun?
S. H.: Kulturschaffende heute – aber vielleicht ist diese These von mir zu gewagt – bringen die Deutung ihrer Werke zumeist auf die Ebene der Betrachter*innen. Hier wird Spielraum für persönliche Anschauung eröffnet.
Christlicher Glaube zielt auf eine Beziehung von Gott und Mensch – hier ist eine persönliche Beziehung, die zwischen Orientierung und Freiheit verortet ist, konstitutiv. Geistlich eröffnete Räume gehen in das Spannungsfeld von Geborgenheit, Schutz und Schirm des Höchsten (Psalm 91,1) und weitem Raum (Psalm 31,9).
Geistlicher Raum und kultureller Raum – sie sind Geschwister im ästhetischen, im ethischen, vielfach im liturgisch choreografischen Sinn, wenn ich an Abläufe und Räume, an Farben und Dramaturgien denke.
In der Weiterführung des Betrachtens, der tiefen Anschauung, also in den Konsequenzen, die in Richtung Bildung und Einüben von Haltungen führen, geht die Religion meines Erachtens einen Schritt weiter als die Kultur im engeren Sinne.
Öffnen wir den Kulturbegriff jedoch in Richtung Kultur als Gesamtgefüge von Traditionen und Haltungen, als Summe von Lebensformen, als Kriterien des gemeinsamen Lebens und ihrer Umsetzung im Alltag, dann bleibt die Stimme der Religion eine wichtige Stimme – nicht aber die einzige.
Christliche Werte sind absolut hoch im Kurs, die Nachfrage nach Plätzen in Kitas und Schulen ist ungebremst. Aber es gibt kein Wertemonopol mehr. Wie gehen wir mit Feiertagen um, mit kirchlichen Zeiten? Das ist so ein typisches Beispiel. Keiner gratuliert vor dem eigentlichen Geburtstag, aber die Ostereier hängen in der Passionszeit, der Weihnachtsbaum steht im Advent. Da könnte ich mich jetzt besserwisserisch hinstellen – tue ich aber nicht. Mir kommt es in der Argumentation mehr auf ein nachvollziehbares Erklären an, als auf die Zeigefingermoral. Ja, ich bin sogar froh – dass es nicht mehr das moralisch hohe Ross gibt, von dem aus von oben herab gesagt wird, was zu tun und zu lassen ist. Auch wenn manches Mal diese Erwartung an mich herangetragen wird, beispielsweise mit der Formulierung: „Was sagt denn eigentlich DIE Kirche dazu?“
Die kirchliche Prägung unserer Kultur und Gesellschaft ist noch da, und - um nicht missverstanden zu werden - dafür steht die Kirche mit ihrer Botschaft von Wahrheit und Würde und in Wahrheit und Würde. Daraus aber möchte ich keinen Anspruch erheben, muss keinen Bedeutungsverlust kompensiert wissen, sondern ich verstehe die Kirchen heute als Einbringer einer Menschensicht, die dem Einzelnen als Geschöpf Gottes unbedingte Menschenwürde zuspricht und als Förderer einer Weltsicht, die sich für Frieden, Gerechtigkeit und für die Bewahrung der Schöpfung einsetzt. Die Kraft dazu – das ist mein Glaube – möge Gott uns schenken; denn er hat keine anderen Hände als die unsrigen.
Den Zugang zu solchem Glauben müssen sich die Leute heute oftmals selber suchen, es gibt keine Selbstverständlichkeit mehr, insbesondere in der stark säkularen Umwelt. In Magdeburg sind gerade einmal etwas mehr als 10 Prozent Mitglieder einer christlichen Kirche. Wer jedoch bereit ist, tiefer zu graben, der findet die christlich geprägte Kultur an unwahrscheinlich vielen Stellen. Auch die aufklärerische Tradition, die Gleichheit vor Gott und dem Gesetz, der Umgang mit Schuld und Vergebung, mit Nachsicht und der Möglichkeit eine zweite Chance im Leben zu bekommen, fußt – heute vielen unbewusst – auf christlicher Tradition. Nicht zuletzt die Feiertage. Nur der 1.Mai und der 3.Oktober sind weltliche Feiertage in unserem Jahr, wo ich als Geistlicher, der ich als Superintendent ja bin, definitiv frei habe – die anderen sind kirchliche Feiertage oder wie der Jahreswechsel stark kirchlich geprägt. Oder kurz gefasst: Weihnachten haben wir Christen auch in Magdeburg Heimspiel.
Mein Interviewgast Stephan Hoenen
Anlässlich seiner Amtseinführung als Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Magdeburg durfte ich Stephan Hoenen vor sechs Jahren im Namen der Stadt Magdeburg willkommen heißen. Dieser erste Kontakt begründete mein Interesse an weiteren, intensiveren Begegnungen. Ich würde, so mein Eindruck, in Stephan Hoenen einen interessierten Gesprächspartner haben zu gesellschaftlichen Themen, zu gelebten Werten.Als Stephan Hoenen zum Vorsitzenden des Kuratoriums zum Neubau einer Synagoge inMagdeburg ernannt und ich zu seinem Stellvertreter gewählt wurde, führte dieses zu häufigeren Treffen. Unsere Gedanken kreuzten hierbei wiederholt durch Themenfelder, die uns im Blick auf unsere gesellschaftliche Realität, die Wirkungen von Religion und Kultur sowie unser eigenes, reflektiertes Handeln bewegten. Stephan Hoenen wurde für mich zu einem vertrauten, geschätzten Wegbegleiter. Es lag deshalb für mich nahe, Stephan Hoenen zum Verhältnis zwischen Kultur und Religion zu befragen.
Biographisches zu Stephan Hoenen

Geboren in Erfurt, aufgewachsen in Potsdam, Abitur in Naumburg
Bausoldat in Prora/Rügen
Studium der Theologie an der Humboldt Universität zu Berlin,
Religionslehrer, Pfarrer in Salzwedel, Schulbeauftragter für die Altmark
Seit 2014 Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Magdeburg
Verheiratet seit 1992, drei erwachsene Kinder
Fotos: Superintendent Stephan Hoenen-Martin Rieß, Magdeburger Volksstimme und auf der Kanzel des Magdeburger Doms – Antje Wilde, Domgemeinde Magdeburg, Veröffentlichung mit freundlicher Zustimmung