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  • AutorenbildDr. phil. Rüdiger Koch

Die Wahrnehmungsfalle

Aktualisiert: 8. Nov. 2020

Jean Baudrillard, ein französischer Philosoph und Soziologe, hat bereits vor 12 Jahren

die Frage gestellt, warum im Zeitalter der Digitalisierung die Werte nicht bereits

verschwunden seien. Die Kunst, so seine Antwort, sei sich ihres Verschwindens nicht

bewusst. Gleichwohl hinterließen die Dinge Spuren, ähnlich den antiken Göttern, die sich

im frühen Christentum als Dämonen wiederfanden.

Auswirkungen bestimmter Kurznachrichten via Twitter von heute erinnern vordergründig

an die Wahrsagungen einer berauschten Pythia im historischen Delphi. Letztere wurden

vor ihrer Verbreitung durch Priester gedeutet: eine mystisch verbrämte Kultur- und

Gesellschaftspolitik. Diese Deutungshoheit unterliegt in unserer Zeit jedoch einer

anderen Sendungs- und Wahrnehmungssystematik.

Das TIME MAGAZIN beleuchtete die rasante Verbreitung von YouTube, dem wohl

weltweit größten Online-Kino. Im Unterschied zum Kino konsumieren die Nutzer dieser

Website kostenlos sechs Milliarden Stunden Filmmaterial pro Monat. In einem Monat

entsteht auf YouTube mehr Filmstoff, als die drei bedeutenden Fernsehsender der USA

in den zurückliegenden sechzig Jahren produziert haben. In seinem klugen Essay

„Neubeginn oder Übernahme?“ spricht Michael Schindhelm (Theaterintendant,

Kulturberater, Autor, Filmemacher) deshalb auch von einem Publikum, das sich

mittlerweile lieber selbst unterhält. Diese „Kultur für alle von allen“ ist keine von

professionellen Institutionen geprägte Kultur. Diese Kultur, so Schindhelm, erfülle ihre

öffentlichen Aufträge und Endzwecke nicht mehr. Ihre Institutionen, Macher und Inhalte


seien längst dem Terror von Globalisierung und Digitalisierung erlegen. Ein unendlicher

diffuser Raum sei entstanden, in dem Konsumenten und Produzenten zwischen Online

und Offline pendelten, alle erdenklichen Stile, Inhalte und Geografien verwoben und

transformiert würden. Schindhelm bezeichnet dieses als „Kulturplasma“. Der einstige

Priester aus Delphi hätte hier keinen Platz.

Nun ließe sich eine derartige „Kultur von allen für alle“ andererseits durchaus als ein

umfassender kultureller Partizipations- und Demokratisierungsprozess verstehen.

Bisherige normativ-kulturelle Ausprägungsprozesse unterlagen jedoch anderen

zeitlichen Amplituden als das Stakkato etwa von Twitternachrichten oder Einspielungen

bei YouTube. Ablesbar sind diese kulturprägenden Epochen beispielhaft in der

Architektur, von der Romanik bis zum Bauhaus. Eine normensetzende Kultur ist das

Ergebnis eines institutionalisierten Diskurses. Künstlich erzeugte Echowellen im Netz

begründen keine Kultur.

Nachrichten, die uns täglich im Börsentickertakt erreichen, binden zunehmend unser

Wahrnehmungspotential. Hierdurch wird unser Blick verstellt für eher langfristige

Entwicklungen, die unser Denken und Handeln normativ-kulturell prägen. Die

voyeuristische Sucht nach dem Aktuellen macht atemlos.

Wir bewegen uns hierbei in Zeiten grundlegender Veränderungen. Doch welch‘ ein

gesellschaftlicher Diskurs führt uns in eine neue Epoche? Geben wir uns hierfür die

notwendige Zeit, den Raum für ein Zuhören, Verstehen und Argumentieren? Sind unsere

Sinne nicht schon verstopft durch die Fülle an täglichen Wahrnehmungen?

Diese Reiz-Reaktions-Mechanismen entladen sich in schnellen, auch in oberfläch-

populistischen Positionierungen. Der erzeugte Effekt ist kaum Ausdruck einer

abgewogenen Meinungsbildung. Die Kehrseite volatiler Äußerungen ist der Wunsch

nach Orientierung. Die Pseudostärke der schnellen Antwort verliert sich in einem

Kulturplasma. Menschen und Institutionen, die uns Werte und Orientierung vermitteln,

verschwimmen dagegen nicht im kurzatmigen Effektrausch.

Es hat gleichwohl nicht den Anschein, dass Kultur und Kulturpolitik bei der Hektik

globaler und digitaler Prozesse an Bedeutung verlören. Baudrillard würde darauf

antworten, dass sie sich dessen nur nicht bewusst seien. „Und der Kulturpolitiker bliebe

der Mann ohne weitere Verwendung. Interessanter wäre jedoch, sich dessen

dämonisches Nachleben im Plasma vorzustellen. Mehr denn je Außenseiter, ließe er die

politische Konvention hinter sich, um herauszufinden, wie eine Interpretation des

Wahren, Schönen, Guten im Kulturplasma aussehen könnte. Dieser Kulturpolitiker hätte

bestimmt keinen eindeutigen gesellschaftlichen Auftrag mehr.“ (Michael Schindhelm)

Nicht nur für den Kulturpolitiker bleibt die Frage, ob wir der Wahrnehmungsfalle, dem nur

effektheischenden Augenblick entkommen und uns Zeit und Raum geben für einen

gesellschaftlichen Diskurs, der Normen und Werte im Gepäck führt, damit Orientierung

gibt in epochalen Umbruchzeiten. Die Antwort hierauf ist offen.

 

Verwendete Literatur


Schindhelm, Michael: Neubeginn oder Übernahme. Die Erosion des öffentlichen

Kulturauftrags und die Entstehung des Kulturplasmas. In: Institut für Kulturpolitik der

Kulturpolitischen Gesellschaft: Jahrbuch der Kulturpolitik 2015/16. Thema:

Transformation Kulturpolitik, 71 – 76.


Anmerkung


Dieser Text wurde erstmals in Magdeburg Kompakt 1/10 2019 veröffentlicht.

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