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  • AutorenbildFrank Bernhardt

Die Freude am Möglichen


Frank Bernhardt

Das Puppentheater Magdeburg ist mehr, als der Name vermuten lässt. Seit Jahrzehnten ist es ein Ort für die Magdeburger, der durch seine künstlerische Arbeit und seine bewusste Suche nach unerwarteten Inhalten, Herausforderungen und Projekten über Altersgrenzen hinweg und ungeachtet der sozialen oder politischen Herkunft seines Publikums, Identität und Verbundenheit schafft.


Doch wie wird aus künstlerischer Haltung künstlerisches Handeln? Dieser Herausforderung stellen wir uns am Magdeburger Puppentheater regelmäßig und nicht nur im alljährlichen Diskussionsprozess über die folgende, noch zu planende Spielzeit. Welche Funktion kann dabei ein Spielzeitmotto einnehmen?

Braucht es denn ein Spielzeitmotto für ein Theater, das vorrangig für Kinder- und Jugendliche agiert und sich zudem einem so speziellen Genre der darstellenden Künste verschrieben hat?

Ja!


Nicht aus Gründen der Brauchbarkeit, sondern aus selbstgestelltem Anspruch im Begreifen, dass jede Form von Theater, egal für welche Zielgruppe, öffentliches Agieren bedeutet und somit Ausdruck der gesellschaftlichen, politischen und sozialen Verantwortung aller Akteure ist. Auf, vor und hinter der Bühne.

Daher führen wir regelmäßig einen mehrere Wochen währenden inhaltlichen Diskurs, der sich nicht beschränkt auf einen intensiven Austausch in der Dramaturgie, sondern ein gemeinsamer wird, an dem auch unsere Theater- und Kunstpädagoginnen sowie das Darsteller*innen-Ensemble beteiligt sind. Im allerbesten Fall schwappen währenddessen oder im Ergebnis formulierte Gedanken auch in die Gewerke.


Unsere Spielzeitmotti finden dann Interpretation vor allem in unserer Arbeit für die Bühne und wirken hinein in weitere Bereiche unserer Arbeit und bis in unsere nach außen sichtbare Ästhetik, die alljährlich das Motto als großes Thema aufgreift.

Vor der Kür liegt jedoch die Pflicht. Soll unser künstlerisches Denken und Tun unser Kinder- und Jugendpublikum erreichen, müssen zunächst jene Personen motiviert werden, die für einen Vorstellungsbesuch die Entscheidung treffen: Erzieher*innen, Lehrer*innen, Eltern und andere Familienangehörige!

Der kleine Lord _ FotoCredit Jesko Doering

Um unsere Motivation zur Arbeit mit Spielzeitmotti, deren Präsenz, Interpretation und die daraus resultierenden Visualisierungen besser verstehen zu können, ist ein knapper Exkurs in die Geschichte des Puppen- und Figurentheaters unbedingt erforderlich. Unser Genre ist besonders, so auch seine spezifische Geschichte an unserem Haus. (1) Vor der Rezeption stehen oft Erwartungen und Haltungen zum Genre,

die bei einigen – auch bei vielen Entscheider*innen für einen Theaterbesuch – immer noch geprägt sind von der individuellen frühkindlichen Puppentheaterselbsterfahrung. Es gilt also nicht nur Inhalte zu vermitteln, sondern parallel dazu eine Neugier auf eine sich beständig weiterentwickelnde Formensprache zu wecken, der ein Kinderpublikum viel offener gegenübersteht, als oftmals der*die erwachsene Begleiter*in.


Mit Wirkung des 1950/51 erfolgten Gastspiels des Moskauer Puppentheaters unter Leitung von Sergej Obraszow in der gerade gegründeten DDR, setzte eine mehrere Jahre währende Gründungseuphorie von staatlichen Puppentheatern ein. Im Ergebnis gab es 19 Puppentheater nach sowjetischem Vorbild in allen großen Städten des Landes. Zuvor wurde das Genre vor allem durch fahrende Familienunternehmungen und Solisten repräsentiert, die vorzugsweise mit den bis dahin gängigen Puppenarten auftraten, der Marionette und der Handpuppe. Die Puppentheater des neuen Typs hingegen waren arbeitsteilig organisiert und agierten als stehende Theaterhäuser mit Ensemble- und Repertoirebetrieb. Beinahe ausschließlich hatten sie einen Spielplan für Kinderpublikum unterschiedlicher Altersgruppen anzubieten.

An der heutigen Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ entstand 1972 die Fachrichtung Puppenspiel, an der erstmals in einem mehrjährigen Studium Puppenspieler*innen akademisch ausgebildet wurden. Aus der Hochschule kamen mächtige Impulse zur Erneuerung in die Puppentheaterlandschaft der DDR. (2)

Nach der Wiedervereinigung folgten diverse Reformen. Heute existieren noch zehn der ehemals gegründeten Puppentheater überwiegend als Sparten großer Häuser. Sie stellen ein beim Publikum erfolgreiches kulturpolitisches Phänomen Ostdeutschlands dar. Das Puppentheater Magdeburg ist dabei das größte Haus mit 43 festen Mitarbeiter*innen. Als Eigenbetrieb der Stadt ist es in allen Belangen selbstständig. Jährlich spielt es für mehr als 50.000 Besucher*innen mindestens 400 Veranstaltungen mit einer Auslastung von 92,8 %, von denen mittlerweile 35 % im Abendspielplan für erwachsenes Publikum angeboten werden. Ein Drittel der Repertoireinszenierungen und jährlich zwei Neuproduktionen richten sich ausschließlich an dieses Publikum. Für den Spielplan im Kindertheaterbereich entstehen jährlich mindestens vier Neuproduktionen.

Angegliedert an das Puppentheater sind die Jugendkunstschule, die FigurenSpielSammlung »villa p.« und das biennale internationale Figuren Theater Festival »blickwechsel«. Das Puppentheater Magdeburg ist heute mehr als „nur“ ein Theaterbetrieb.


Die zweite Prinzessin _ Foto Credit JeskoDoering

Den Magdeburger*innen ist ihr Puppentheater eine kulturelle Größe in ihrer Landeshauptstadt. Dennoch bleibt es eine stete Herausforderung, bei diesen unterschiedlichen Geschäftsfeldern und einer divergenten Publikumsstruktur künstlerisch zu verhandeln und ein Ort des gesellschaftlichen Diskurses für ein Publikum jeglichen Alters zu sein. Mit der Jahrtausendwende begann ein Prozess der Emanzipation von der Tradition des Hauses, ohne sie zu verleugnen, und auf vielen Wegen ein Austausch mit dem Publikum jenseits der Bühne. Ein Spielzeitheft erschien und das erste Spielzeitmotto wurde formuliert, um den verschiedenen Inszenierungen im Kindertheater und Abendspielplan eine Klammer zu geben.

Was mit regelmäßigen Workshops für Lehrer*innen und Erzieher*innen begann, entwickelte sich über Jahre zu einer theaterpädagogischen Strategie. Die sich stetig weiterentwickelnde Inszenierungsästhetik und die sich daraus verändernden Spiel- und Erzählweisen im Theater mit Puppen verlangen eine stete Neugier auf Neues. Bei einem direkten, spielerischen Austausch wollen wir die Entscheidungsträger*innen mit unserer Lust am Zeitgenössischen im Theater mit Puppen anstecken. Gleichzeitig initiieren wir den dringenden Erkenntnisgewinn, dass das Puppentheater kein Ort des bloßen fröhlichen Vergnügens ist, sondern einer des außerschulischen Lernens mit künstlerischen/theatralen Mitteln.


Schonzeit_Foto Credit Viktoria Kuehne

Inszenierungsbegleitende Vor- und Nachbereitungen, abendliche Weiterbildungen mit theaterpädagogischem und kunstpädagogischem Schwerpunkt, exklusive Generalprobenbesuche mit anschließendem Inszenierungsgespräch unter Mitwirkung von Regie und Dramaturgie, Workshops zu Inhalt und Form, die zu anerkannten Fortbildungen ausgebaut wurden, sowie unser alljährlicher IMPULSE-Abend, an dem unsere Theaterpädagoginnen gemeinsam mit der Dramaturgie und Darsteller*innen des Ensembles einen spielerischen Ausblick auf die kommende Spielzeit geben, sind Instrumente der Vermittlung. Unser 100 qm große Workshopraum, den wir 2012 durch die Sanierung einer Rayonhaus-Villa und ihrer Umnutzung zu unserer FigurenSpielSammlung gewannen, ist seitdem in Dauerbelegung. Unsere Endproben-V.I.P`s, Premierenkitas und -klassen haben dort ihren Ort. Theater- und Kunstpädagog*innen interpretieren in ihren Angeboten das jeweilige Spielzeitmotto dabei vielfältig und altersspezifisch für ein Publikum von drei bis zwölf Jahren.

Altersbeschränkungen statt Altersempfehlungen sind ein weiteres Mittel, um jedem*r Besucher*in einen ungestörten, intensiven Vorstellungsbesuch zu ermöglichen und entsprechend der eigenen biographischen Voraussetzungen Zugang zu unseren Angeboten zu bekommen.

Das Spielzeitmotto und dessen individuelle Interpretation sind die Ausgangspunkte für alle Aktivitäten nach innen und nach außen. Es gibt keine verordnete Haltung oder Interpretation zum Motto, vielmehr liegt die Spannung in den Fragestellungen der Mitarbeiter*innen an das jeweilige Motto und vermitteln somit auch dem individuellen Theaterbesucher unterschiedlichste Impulse, um unsere Gedanken und Interpretationen anzunehmen und im besten Falle weiterzudenken.

Ein Team von künstlerischem Leiter, drei Dramaturginnen, zwei Theaterpädagoginnen und drei Kunstpädagoginnen widmet sich gemeinsam mit dem Darsteller*innen-Ensemble der Diskussion, Suche und letztlich inhaltlichen Umsetzung der jeweiligen Spielzeiten.



Koenig Kolosal_Foto Credit Viktoria Kuehne

Unter diesen Voraussetzungen war es ein lustvoller Schritt, aus einem klassischen Spielzeitheft ein hauseigenes Theatermagazin zu entwickeln. Vier Mal pro Spielzeit erscheint das 16 oder mehr Seiten zählende Journal »PUPPE«, deren 49 Ausgaben bisher erschienen sind. Die Publikation entsteht inhaltlich aus aktuellen Prozessen heraus und kann visuell mit authentischen Fotomotiven arbeiten. (3) Die Visualisierung von Ästhetik und Spielform sind ein essentieller Aspekt unseres Genres, zur individuellen Einstimmung auf den Vorstellungsbesuch und dringend empfohlen, um falschen tradierten Erwartungen vorzubeugen.

Rubriken wie »Menschenbild« und »Gastarbeiter*in« informieren über jene, die das Theater erst möglich machen, »Sahnestück« und »Premierenfieber« geben den jeweiligen Produktionsdramaturginnen die Möglichkeit, einen weiten Bogen zur Inszenierung zu schlagen und dabei Assoziationsketten zu entwerfen, die weit mehr sind, als Inhaltsangaben, und unser »Rück/Aus/Einblick« lädt ein, einen theaterspezifischen Aspekt noch genauer unter die Lupe zu nehmen.

Das Spielzeitmotto als diskutiertes Thema im Haus schlägt sich auch in den Texten des Journals wieder, wo es gern als Faden aufgegriffen wird, zum Reflektieren einlädt oder humorvoll mit ihm umgegangen wird.

Motive der klassischen Bühnenfotografie finden nur noch zur direkten Ankündigung einer Spielplanposition Verwendung. Alle Titelseiten-Motive für eine Spielzeit, also Imageplakat, Theatermagazin, Monatsleporello und Abendspielplan, werden während eines mehrtägigen Shootings mit externen Profi-Fotograf*innen erarbeitet.

Seit vier Jahren ist dies ein Prozess, der alle Beteiligten zu intensiver Auseinandersetzung mit dem Spielzeitmotto auffordert. Über mehrere Wochen werden im Austausch zwischen Dramaturgie, Darsteller*innen und Fotograf*in Assoziationen entwickelt. Jede*r Darsteller*in schlägt mindestens drei verschiedene Motive vor und mit der Ausstattungsleitung und der Technikabteilung werden diese Ideen auf Durchführbarkeit überprüft. Es ist ein Abenteuerspiel, das jede*n beteiligte*n Mitarbeiter*in einlädt, sich mit eigener Haltung zum Spielzeitmotto zu positionieren.

Diese Vielzahl an Motiven, die während einer Spielzeit in den Druck gehen, werden von einer ästhetischen Klammer zusammengehalten, die gemeinsam mit dem*r Fotografen*in definiert wurde. Sie bieten dem Publikum bzw. dem*r Leser*in im Gegensatz zu einer einzigen Repräsentation immer wieder Anregung, selbst einen gedanklichen Spagat zwischen Motiv und Motto zu vollführen und diesen mit eigener Erkenntnis und Haltung als nachhaltig zu erleben.

Erfolgreiches künstlerisches Handeln basiert auf gegenseitigem Respekt, Offenheit und Aufmerksamkeit – quer durch alle Abteilungen des Theaters und nach außen.

Seit Jahrzehnten ist das Puppentheater Magdeburg selbstbewusster Akteur in der Stadtgesellschaft. Es ist permanent zu hören, zu sehen und es sendet Signale über den Spielplan hinaus. 2017 engagierten wir uns im Projekt »OFFENE GESELLSCHAFT« in Vorbereitung der Bundestagswahl mit diversen theatralen Sonderformaten sowie spektakulären Podiumsdiskussionen zwischen Repräsentant*innen aller Parteien aus Landes- und Europapolitik, mit deutschlandweit agierenden Theatermacher*innen und Kulturpolitiker*innen. Im Zuge der Unterzeichnung der Erklärung »DIE VIELEN e.V.« gründete sich innerhalb der Belegschaft des Puppentheaters die bis heute aktive Arbeitsgruppe »Stand.Punkt«. Mit Sonderveranstaltungen jenseits des Spielplans leistet sie einen Beitrag zur öffentlichen Debatte dringender gesellschaftlicher Themen.


Schimmelreiter_Foto Credit Viktoria Kuehne

Die Einschränkungen der Covid-19-Pandemie ließen 2019/20 eine unvollendete Spielzeit »WALD« zurück. Das starke Motto nehmen wir mit Humor in der laufenden Spielzeit »irgendwas mit WALD« wieder auf, da es uns als zu wichtig erscheint, als dass es einfach dem Archiv übergeben werden könnte. Unsere vor zwei Jahren angepflanzte Waldbühne, Ort unseres Sommertheaters EIN SPÄTSOMMERNACHTSTRAUM wird weiter blühen und Publikum jeden Alters auch zu Sonderveranstaltungen einladen. Das Thema Nachhaltigkeit im Theater, das hier anklingt, würde jedoch nochmals mehrere tausend Zeichen erforderlich machen, und sei nun hier nicht weiter ausgeführt.

Dennoch ist eben diese Waldbühne ein wunderbares Beispiel für das kontinuierliche Leben von konzeptionellen Gedanken und inhaltlichen Motti. Unter deren Eindruck als Bühnenbild für eine Inszenierung geschaffen, lebt sie als ein Ort weiter, der Inspiration gibt zur Auseinandersetzung mit dem, was einst der erste Funke zu ihrer Entstehung war.


Frank Bernhardt

Künstlerischer Leiter


Fußnoten

(1) Für differenziertere Informationen empfehle ich den Sammelband „ENSEMBLE IN BEWEGUNG, wie sich das Puppentheater Magdeburg stetig neu erfindet“, Hrsg. v. S. Brendenal und A. Meyer, Berlin, Theater der Zeit, 2021

(2) Der Studiengang firmiert heute unter »Zeitgenössische Puppenspielkunst« und hat eine Dauer von vier Jahre. Es werden jährlich zehn Studierende immatrikuliert. Die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart nimmt jährlich bis zu sechs Studierende in der Fachrichtung Figurentheater auf.

(3) https://www.puppentheater-magdeburg.de/service/puppentheater-journal/

 

Biografisches zu Frank Bernhardt


Kulturwissenschaftler

Arbeit an verschiedenen kulturellen Einrichtungen der Stadt Magdeburg

1983 – 1989 Abteilungsleiter künstlerische Produktion am AMO Kultur- und Kongresshaus Magdeburg

1989 – 1991 Meisterschüler für Regie bei Emil Neupauer am Friedrichstadtpalast Berlin und Redakteur beim Deutschen Fernsehfunk für die Talkshow „Kaktusblüten und Paradiesvögel“

1992 – 1993 Werbe- und Marketingberater in der Agentur für Werbegestaltung W. Schneider in Magdeburg

1993 – 2001 Abteilungsleiter für Werbung und Marketing am Magdeburger Puppentheater

Seit 1995 Künstlerischer Leiter des Internationalen Figuren Theater Festivals BLICKWECHSEL am Magdeburger Puppentheater

Seit 2001 Künstlerischer Leiter und Regisseur am Puppentheater Magdeburg

2005 – 2010 künstlerischer Leiter der Sparte Puppentheater am Anhaltischen Theate


Zudem ist Frank Bernhardt:

  • Mitglied in internationalen Jurys für die Kunstform Puppen- und Figurentheater u.a. Bulgarien (Stara Zegora und Varna), den Niederlanden (Meppel), Weißrussland (Minsk), Estland (Tallinn)

  • Sachverständiger der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt für den Bereich Figurentheater/Puppenspielkunst

  • Ehrenamtlich engagiert als Mitglied der Jury für den Kunstwettbewerb Inhaftierter und Patient*innen der Justiz- und Maßregelvollzugsanstalten des Justizministeriums des Landes Sachsen-Anhalt

  • Mitglied der Prüfungskommission an der Hochschule für Musik und darstellendes Kunst in Stuttgart

  • engagiert im Bereich Umwelt und Artenschutz




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