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  • AutorenbildDr. phil. Rüdiger Koch

Potenziale des Möglichen

Aktualisiert: 8. Nov. 2020


Verantwortung übernehmen und kulturpolitisch handeln*

Im Jahre 1990 wurde Magdeburg zur Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts gewählt. Ihre Kulturgeschichte prägten gewaltige und gewalttätige Umbrüche, die der Stadt oft über Dezennien, manchmal Jahrhunderte, ihren Stempel aufdrückten: Zur ottonischen Epoche nicht nur geografisch, sondern auch politisch im Zentrum Europas, am 10. Mai 1631 in den Flammen des Dreißigjährigen Krieges nahezu ausgelöscht. Die Einwohnerzahl der Stadt fiel von über dreißigtausend auf gerade 450. „Magdeburgesieren“ wurde zu einem Synonym für kriegerische Verwüstung.

Magdeburg benötigte über zwei Jahrhunderte, um seine ursprüngliche Größe wieder zu erreichen, um im Verlauf der Industriellen Revolution in kurzer Zeit auf das Zehnfache an Einwohnern zu wachsen. In den entstandenen Fabrikhallen wurden auch moderne Waffen produziert, welche die Wehr der einst stärksten Festung Preußens überflüssig machten und an den Fronten des Ersten und Zweiten Weltkrieges den Tod brachten.

Mit der fast vollständigen Zerstörung der Stadt am 16. Januar 1945 wiederholte sich das Trauma von 1631. Es folgte die geopolitische Neuausrichtung Magdeburgs als Stadt des Schwermaschinenbaus an der westlichen Grenze des damaligen Ostblocks.

Trotz dieser historischen Zäsuren bewahrte sich die Stadt eine kulturelle Kontinuität. Ihre Bürgerschaften schufen – bisweilen verborgen fast, manchmal unter dem Beifall der Welt – Kleines und Großes. Und immer wieder erwuchsen der kulturgeschichtlichen DNA der Stadt, Mutationen gleich, diese Veränderndes, anderweitig Prägendes, über ihre Grenzen hinaus.

Die entgrenzte Einheitseuphorie der Wendezeit mit den eröffneten Optionen auf Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, gesellschaftliche Vielfalt, mit ihren Hoffnungen, auch Ängsten, und ihren kreativen Aufbruchspotentialen verlief nicht ohne Einschnitte. So gingen allein in Magdeburg über 40.000 Arbeitsplätze verloren und die jährliche Zahl der Geburten fiel binnen kurzem um ca. 60 Prozent. Unter den besonderen, förderlichen Bedingungen der deutschen Einheit setzte ein - nicht nur – wirtschaftlicher Strukturwandel ein, der sich bis in die absehbare Zukunft fortsetzen wird.

Blieb bei diesen zeitraffergleichen Entwicklungen überhaupt Raum für eine diskursbasierte, ergebnisorientierte Kulturpolitik? Und hatte sie überhaupt eine Chance, sich in dieser Zeit angemessen Gehör zu verschaffen? Gerade weil sie unter den veränderten Bedingungen neue Wege zu skizzieren hatte, deren Ausbau ebenso notwendig wie spannend, lust- und schmerzvoll sein würde, musste sie die Höhen und Tiefen vergangenen und gegenwärtigen Tuns und Lassens zur Grundlage haben.

In einer ersten Phase erfolgte dies über themenbezogene Positionspapiere des Kulturdezernates, die aus der Analyse der Ist-Situation und den hier aufgezeigten Defiziten prioritäre Setzungen ableiteten. Bei diesen auf kurzfristige politische Entscheidungen abzielenden Vorlagen wurde bewusst begonnen mit einem Konzept zur Entwicklung der Stadtteilkultur, um damit auch politisch ein Zeichen für ein partizipatives Kulturverständnis gegenüber sich neu entwickelnden, eigene Perspektiven suchenden Kulturinitiativen zu setzen. Weitere Papiere u.a. zu den Museen, Theatern, zur Literatur- und Musikförderung folgten

Auf der Grundlage der inhaltlichen Diskussionsergebnisse und Beschlussfassungen wurden für den investiven Bereich eine Reihe von Entscheidungen auf den Weg gebracht (Neubau bzw. grundhafte Sanierung von Zentralbibliothek, Konservatorium, den zentralen Theaterwerkstätten, Schauspielhaus, einem Haus der Musik, Puppentheater, Stadtteil-Kulturzentren usw.), so dass nur innerhalb einer Dekade die Kultur Magdeburgs über eine moderne und leistungsfähige Infrastruktur verfügen konnte. Der Umfang dieser kurzzeitigen Investitionen in Kultureinrichtungen ist in der Geschichte der Stadt ohne Beispiel.

Parallel hierzu wurden seitens des Kulturdezernates wiederholt Jahresthemen im städtischen Kalender besetzt, wie mit zwei hochgelobten Europaratsausstellungen zur ottonischen Epoche oder dem Weltfigurentheater-Festival der UNIMA. Auch bereits in dieser frühen Phase wurde u.a. die Diskussion zum Einfluss der Kultur auf die Stadtentwicklung seitens des Fachdezernates aktiv geführt und mit konkreten kommunalpolitischen Beschlüssen begleitet.

Die Zügigkeit dieser kulturpolitischen Entscheidungsfindungen mahnte zu einem zwischenzeitlichen Innehalten. Die verantwortliche Vorbereitung und Durchführung des 1.200jährigen Stadtjubiläums 2005 gaben einen zusätzlichen Anlass, im genannten Jahr ein umfassendes Papier als Statusbericht mit Ausblick vorzulegen. In der Einführung wurde selbstbewusst formuliert, dass sich in der Vermittlung zwischen Wissenschaft, Politik und gesellschaftlichem Leben die Kulturpolitik als ein Schlüsselbereich der Gestaltung gegenwärtigen und zukünftigen städtischen Lebens versteht. Diese Aussage wurde auch dadurch belegt, dass sich der relative Anteil des Kulturbereiches am Verwaltungshaushalt der Landeshauptstadt Magdeburg gegenüber 1994 innerhalb einer Dekade nahezu verdoppelt hatte. Von allen Landeshauptstädten hielt Magdeburg im Jahre 2003 die höchsten laufenden kommunalen Kulturausgaben mit 126,60 € je Einwohner, gefolgt von Stuttgart mit 124,50 €. Die Bürgerschaft mit ihrem Stadtrat hatte sich hiermit engagiert und verantwortungsbewusst zur Entwicklung Magdeburgs auch als einer bedeutenden Stadt der Kultur bekannt.

Wenngleich das Papier Perspektiven für die Folgejahre aufzeigte, war es im Ergebnis eher eine Zwischenbilanz der politisch-administrativen Arbeit als das Resultat eines breit angelegten Diskurses. Der anhaltende Transformationsprozess vom Industriestandort zum Verwaltungs-, Kultur- und Wissenschaftszentrum, zum modernen Dienstleistungszentrum, bestimmte weiterhin die städtische Um- und Aufbruchssituation. Eine derartige Situation, so auch die Erfahrung aus der eigenen 1200jährigen Stadtgeschichte, bot die Chance, neue Handlungsansätze zu finden, erweiterte Positionsbestimmungen vorzunehmen. Die Feststellung, dass auch die Kultur(politik) fortwährend vor aktuellen, neuen inhaltlichen Aufgaben steht, die sich aus der Auseinandersetzung mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen herleiten, warf in den Diskussionen immer wieder die Frage nach der Planbarkeit von Kultur auf. Klassische Planungsszenarien sind häufig langfristig konzipiert und damit weniger handlungsrelevant. Mitunter werden die Ergebnisse bereits von der Realität überholt, ehe sie überhaupt als politisches Ziel konkretisiert oder als solches umgesetzt werden können.

Weil gerade Kultur immer Bewegung induziert und andererseits Spontaneität evoziert, bedarf es angemessener Konzeptstrategien. Dabei ist die Operationalisierung von Planungsprozessen, durch welche die Kultur tatsächlich in den lebendigen Austausch mit der gesamtgesellschaftlichen Situation tritt, schon immer eine Gratwanderung zwischen kurzfristig angelegten Konzepten mit politischer Handlungsrelevanz auf der einen und verbindlichen Perspektivaussagen auf der anderen Seite. Von daher bot sich in einem weiteren Schritt die diskursive Begleitung konkreter Transformationsprozesse an, verbunden mit klassischen Planungselementen, um damit die berechtigte Erwartungshaltung der Bürgerschaft nach Partizipation, die der Kultur immanent ist, handlungsorientiert aufzugreifen.

Gleichsam als dritte Phase einer kulturpolitischen Strategie der Nachwende wurde seitens des Fachdezernates in diesem Verständnis zu einem öffentlichen Kulturdiskurs eingeladen. Über 20 Monate wurden in Workshops, unterbrochen von Kolloquien, durch die zahlreich Beteiligten Thesen erarbeitet, die als Grundlage für eine Kulturcharta der Landeshauptstadt Magdeburg dienten und das inhaltliche Skelett des Gesamtpapiers darstellten. Mit der vorgelegten Charta verband sich die Einladung zu einem anhaltenden operationalisierten, ergebnisorientierten Diskurs über das kulturelle Profil der Stadt vor dem Hintergrund der aktuellen Situation und erkennbarer gesellschaftlichen Tendenzen. Mehr noch: Der Magdeburger Stadtrat nahm im Jahr 2011 die Kulturcharta zum Anlass, die Verwaltung zu beauftragen, sich um den Titel der Kulturhauptstadt Europas zu bewerben. Damit wurde der Diskussion eine neue Dimension gegeben, in welcher kommunale Kulturpolitik sich nicht nur eingebunden sieht in nationale, sondern europäische Kontexte. Es steht damit nicht mehr die Frage im Vordergrund, wie „kulturmächtig“ die deutsche Einheit verlief, sondern wie wir mit Globalisierung, Digitalisierung, auch mit wiedererstarkten Nationalismen umgehen, welche Kulturschätze anderer Regionen uns zu bereichern und welche Erfahrungen wir im Austausch einzubringen vermögen. Gerade die einflussnehmende Kulturpolitik der Nachwendezeit, hier im Osten Deutschlands, bietet sich hierfür exemplarisch an.

Zeitraffergleiche Transformationsprozesse haben die Kulturpolitik im Osten Deutschlands vor besondere Herausforderungen gestellt, auch politisch geschärft. Hierauf zu schauen, ist ein Informationsangebot an den Westen unserer Republik, aber auch an den europäischen Kulturkontinent. Bedeutsam bleibt für uns gemeinsam der internationale Blick, nicht nur die Binnensicht auf die Einheit, sondern der gelebte Umgang mit der Vielfalt.

Magdeburg hat sich kulturbewusst erneut auf den Weg gemacht, eine beachtete Rolle auf der europäischen Bühne zu spielen.

 

*Grundlage dieses Beitrages ist der am 18. Juni 2015 auf dem 8. Kulturpolitischen Bundeskongress „Kultur.Macht.Einheit? Kulturpolitik als Transformationspolitik“ gehaltene Vortrag in Panel 1 „Neubeginn oder Übernahme? Die Deutsche Einheit als kulturpolitische Zäsur“, erstmals veröffentlicht vom Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2015/16, transcript Verlag, Bielefeld 2016, S. 85 – 88.

In Kompakt Magdeburg erschien der Beitrag in gekürzter Form und mit wenigen inhaltlichen Aktualisierungen.

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